Die Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs belasten noch heute die Ostsee. Schätzungen zufolge lagern etwa 1,6 Millionen Tonnen Munition auf dem Meeresgrund ein Großteil davon rostet, ist giftig und stellt ein wachsendes Risiko für Umwelt, Fischerei und Sicherheit dar. Insbesondere Deutschland intensiviert seine Bemühungen zur Beseitigung dieser Gefahr, da sich geopolitische Spannungen zwischen der NATO und Russland in der Region zuspitzen.
Ein Großteil der Munition stammt aus den Entsorgungsmaßnahmen der Alliierten nach dem Krieg. Um Konflikte zu vermeiden, wurde entschieden, überschüssige deutsche Bestände auf möglichst kostengünstige Weise zu vernichten – durch Versenkung in Nord- und Ostsee. Beauftragte Fischer warfen die Ladungen jedoch oft außerhalb der vorgesehenen Zonen ins Meer, während Strömungen die Kampfmittel zusätzlich verstreuten. Heute befinden sich große Mengen wenige Kilometer vor der Küste von Boltenhagen, wo bei einer Expedition rund 900 Tonnen Munition allein in einem markierten Feld entdeckt wurden.
Die Behälter korrodieren und setzen explosive Verbindungen wie TNT frei. Untersuchungen des GEOMAR Helmholtz-Zentrums zeigen, dass sich solche Toxine bereits in breiten Wasserproben nachweisen lassen – auch außerhalb der ursprünglichen Versenkungsgebiete. Noch liegen die Konzentrationen unter akuten Gefährdungswerten für Mensch und Meeresorganismen. Doch steigende Wassertemperaturen und Extremwetterereignisse könnten die Zersetzung beschleunigen und die Situation drastisch verschärfen.
Die Ostsee ist aufgrund ihrer eingeschränkten Wasserzirkulation besonders anfällig. Anders als Ozeane verfügt sie nicht über starke Strömungen, die Giftstoffe schnell verteilen könnten. Regionale Studien betonen daher die Dringlichkeit präventiver Maßnahmen zum Schutz eines der wichtigsten marinen Lebensräume Europas.
Deutschlands koordinierte Räumungsinitiative
Deutschland stellt über 100 Millionen Euro zur Verfügung, um in einem mehrstufigen Programm Munition in seinen Hoheitsgewässern zu bergen. Im Zentrum steht das sogenannte Baltic Lift – eine Plattform mit Krananlage vor Boltenhagen, auf der rund um die Uhr Taucher im Schichtbetrieb arbeiten. Sie bergen Granaten und andere Kampfmittel vorsichtig und platzieren sie in Unterwasserkörben.
Die Munition wird nicht vor Ort entschärft, sondern zu spezialisierten Anlagen an Land transportiert. Diese Vorgehensweise verringert die Gefahr von Detonationen oder Freisetzungen toxischer Stoffe in sensiblen Meeresregionen. Die logistischen Herausforderungen sind dabei immens und erfordern hochpräzise Planung und technische Expertise.
Neben manueller Bergung investiert Deutschland in die Entwicklung automatisierter Methoden. Robotertechnik und schwimmende Verbrennungsplattformen sollen künftig große Mengen an Bord vernichten, um Transporte über Land zu vermeiden. Solche Plattformen gelten als vielversprechend, da sie Risiken für Küstengemeinden und Transportpersonal erheblich reduzieren könnten.
Volker Hesse, Ingenieur und Projektleiter der Räumungsarbeiten, betont die internationale Relevanz: „Nicht nur Deutschland steht vor dieser Herausforderung. Auch andere Ostseeanrainer und ehemalige Kriegsgebiete wie Vietnam oder Kambodscha sehen sich mit Altlasten konfrontiert.“ Damit sei das deutsche Programm ein Beispiel für eine globale Verpflichtung zur Umweltverantwortung.
Umwelt- und geopolitische Dimensionen
Die chemische Belastung durch Munition kann krebserregende Wirkungen bei Meerestieren und Menschen hervorrufen. Zudem stellen Blindgänger eine akute Gefahr für Fischer, Offshore-Arbeiter und militärische Operationen dar. Organisationen wie Green Cross Sweden berichten regelmäßig über die Risiken und fordern mehr Aufklärung in Küstengemeinden. Immer wieder ziehen Fischernetze versehentlich chemische Waffen an die Oberfläche.
Gleichzeitig verschärfen geopolitische Entwicklungen die Situation. Die Ostsee ist ein Brennpunkt militärischer Aktivitäten: Zwischenfälle wie das Durchtrennen von Unterseekabeln oder Luftraumverletzungen durch russische Jets stellen zunehmend Risiken dar – besonders in der Nähe von Munitionsfeldern. Die Räumungsmaßnahmen gewinnen so auch sicherheitspolitische Bedeutung.
Der Sicherheitsexperte Yakup Ekmen weist in einem Tweet darauf hin, dass die Umweltgefahren durch alte Munition in der Ostsee oft übersehen würden, obwohl sie genauso dringlich seien wie militärische Spannungen. Diese Perspektive verdeutlicht die Vielschichtigkeit der Problematik, bei der historische Altlasten, Umweltkrisen und geopolitische Unsicherheit eng miteinander verknüpft sind.
Europe is on the alert after unknown radioactivity increase in the Baltic sea. Sensors in Sweden detected an increase in nuclear particles from a location near the Baltic Sea.
— Yakup Ekmen (Eng) (@Yakup_ekmn) June 27, 2020
There are two Russian nuclear plants near the region. pic.twitter.com/ne02vRfpqe
Regionale Zusammenarbeit und zukünftige Strategien
Angesichts des gemeinsamen Meeresraums ist Kooperation mit Staaten wie Polen, Dänemark und Schweden unerlässlich. Die Helsinki-Kommission (HELCOM) koordiniert grenzüberschreitende Datenbanken und Umweltmaßnahmen. Doch operative Umsetzungen bleiben je nach Land unterschiedlich – sowohl in technischer als auch finanzieller Hinsicht.
Neue Technologien spielen eine zentrale Rolle: Roboter zur Ortung und Bergung, schwimmende Entsorgungsanlagen oder KI-gesteuerte Systeme könnten die Effizienz steigern und Menschenleben schonen. Zugleich wird die Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren wichtiger, um Vertrauen in staatliche Maßnahmen zu fördern und regionale Interessen zu wahren.
Obwohl Deutschlands Pilotprojekt nur einen Bruchteil des Gesamtproblems adressiert, markiert es einen bedeutenden Fortschritt. Doch vollständige Entschärfung wird Jahrzehnte dauern und dauerhaftes Engagement erfordern. Anpassungsfähige Strategien und langfristige Finanzierung bleiben ebenso entscheidend wie politische Abstimmung und technologische Innovation.
Die Ostsee bleibt ein Ort mit doppelter Belastung: Einerseits als Erinnerungsort an Kriegsverbrechen, andererseits als Zukunftsraum ökologischer und sicherheitspolitischer Bedeutung. Der Umgang mit der toxischen Munition in ihren Tiefen ist nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch des politischen Willens, Lehren aus der Vergangenheit ernsthaft in die Gegenwart zu überführen.