Abdullah Hassoun sprach kaum Deutsch, als er im November 2015 nach Deutschland kam. Sein Hauptziel war es, sich und seine Frau nach der Flucht aus dem syrischen Konflikt in Sicherheit zu bringen. Nach mehreren Jahren Ausbildung an der Universität Aleppo während des Krieges arbeitet der 27-Jährige heute in einem kleinen Ingenieurbüro in Berlin als Vermessungstechniker. Das kontroverse Thema Einwanderung hat in diesem Herbst eine neue, angespannte politische Phase in Europa eingeläutet. Während Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán damit drohte, Migranten per Bus von Budapest nach Brüssel zu transportieren, hat Deutschland begonnen, afghanische Flüchtlinge nach Kabul abzuschieben und die Grenzkontrollen an seinen Binnengrenzen innerhalb der EU wieder einzuführen. Auf der Konferenz der europäischen Staats- und Regierungschefs Mitte Oktober soll laut mehreren Diplomaten in der belgischen Hauptstadt das Thema Migration diskutiert werden.
Die Belastungsprobe der offenen Tür-Politik
Frontex berichtete jedoch von einem Rückgang irregulärer Migranteneinreisen in die EU um 36 % seit Jahresbeginn (113.400 Ankünfte bis Ende Juli). Im Juni unterzeichneten die 27 EU-Mitgliedstaaten Migrationsabkommen mit Ägypten, Libanon und Tunesien und ratifizierten den „Pakt für Migration und Asyl“, um diese Ankünfte gemeinsam zu bewältigen. Doch der erhoffte politische Effekt blieb aus. Deutschland ist für viele das Einwanderungsland schlechthin. Mit über drei Millionen Migranten und Asylbewerbern beherbergt es mehr als jedes andere europäische Land. Der Bedarf an Fachkräften und das attraktive Sozialsystem ziehen viele Migranten an. Dennoch stieg die Zahl der Asylanträge im letzten Jahr um mehr als 50 %. Das Aufnahmesystem steht unter enormem Druck. Die rechtspopulistische Opposition wirft der Regierung zunehmend vor, die Migration nicht kontrollieren zu können. Als Reaktion darauf hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Einwanderungsgesetze drastisch verschärft.
Der Zustrom von Migranten stellt Deutschland vor Herausforderungen
2020 wurde der Flughafen Tegel in Berlin dauerhaft geschlossen. Doch als 2022 täglich Hunderte von Ukrainern aufgrund der russischen Invasion ankamen, wurde der Flughafen zu einem Flüchtlingszentrum umfunktioniert. Tegel ist mittlerweile Deutschlands größtes Flüchtlingslager mit rund 5.000 Bewohnern und einer Kapazität von bis zu 7.000 Personen. Weitere Erweiterungen sind nicht geplant, da die Kapazitätsgrenze erreicht ist. Im Jahr 2023 beantragten etwa 300.000 Menschen Asyl in Deutschland – die höchste Zahl seit 2015. Die Mehrheit stammt aus Afghanistan, der Türkei und Syrien. Die Regierung musste auf Hotels als Unterkünfte ausweichen, wobei Medienaufnahmen an diesen Standorten untersagt wurden. Die überlasteten Aufnahmeeinrichtungen erschweren die Integration, was die anti-migrantischen Stimmungen im Land verstärkt. Bei den letzten Kommunalwahlen erzielte die rechtsextreme AfD Rekordergebnisse. Grenzkontrollen zu Polen, der Schweiz und Tschechien wurden eingeführt. Die neue Politik zielt darauf ab, die Zahl der Neuankömmlinge zu verringern und die Sozialleistungen für Asylbewerber einzuschränken.
Das Gleichgewicht zwischen Migration und Ressourcen
David Kipp, Migrationsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), erklärte: „Der Diskurs wurde durch die hohen Zahlen und das Gefühl vieler Menschen, die Kontrolle zu verlieren, stark angeheizt.“ Trotz wachsender anti-migrantischer Stimmungen gingen im Januar über eine Million Menschen in Deutschland gegen die extreme Rechte auf die Straße. Die Proteste wurden durch Berichte über ein angebliches Abschiebeprogramm von AfD-Mitgliedern und Neonazis ausgelöst, das Millionen von Migranten, darunter auch deutsche Staatsbürger, betreffen sollte. Die Proteste beeinflussten die Kommunalwahlen im Januar, bei denen die konservative Opposition knapp vor der AfD siegte. Dennoch liegt die Ampelkoalition in den Umfragen weiterhin deutlich hinter der AfD.
Deutschlands Migrationskrise
Trotz Sprachbarrieren und fehlender offizieller Berufsabschlüsse, die in Deutschland oft für einen Job erforderlich sind, fanden viele Migranten dennoch Arbeit. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sagte: „Was uns überrascht hat, ist, dass etwas mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge in qualifizierten Berufen arbeiten, die normalerweise eine berufliche Ausbildung oder höhere Abschlüsse erfordern, obwohl nur 20 Prozent der Flüchtlingsbevölkerung solche Zertifikate besitzen.“