Innenminister Alexander Dobrindt hat einen außenpolitischen Tabubruch vollzogen: Deutschland solle direkt mit den Taliban verhandeln, um die Abschiebung afghanischer Staatsangehöriger zu ermöglichen. Diese Aussage, veröffentlicht im Sommer 2025, bedeutet eine grundlegende Wende in der deutschen Migrationspolitik. Bisher galt: Kein offizieller Kontakt mit einem nicht anerkannten Regime.
Der Vorstoß kommt mitten in eine aufgeheizte Debatte über Migration, flankiert von wachsendem innenpolitischem Druck und einem deutlichen Rechtsruck in Teilen der deutschen Wählerschaft.
Migrationspolitik und Rückführungen im Fokus
Anstieg der Asylanträge verschärft die Lage
Deutschland verzeichnet seit zwei Jahren stark steigende Asylantragszahlen. Allein 2023 und 2024 wurden mehr als 600.000 neue Anträge gestellt – ohne ukrainische Kriegsflüchtlinge. Afghanen stellten mit über 34.000 Anträgen im Jahr 2024 eine der größten Gruppen.
Mit diesem Anstieg wuchs auch die öffentliche Besorgnis, verstärkt durch Berichte über Straftaten durch Asylsuchende und den Wahlerfolg rechtspopulistischer Parteien bei der Bundestagswahl im Februar 2025. Die neue konservative Bundesregierung unter Friedrich Merz versprach eine deutlich härtere Gangart in der Migrationspolitik.
Von Drittstaaten zu bilateralen Gesprächen
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 setzte Deutschland Abschiebungen nach Afghanistan aus. Erst im August 2024 wurden einzelne verurteilte Straftäter über Drittstaaten wie Katar zurückgeführt – symbolische Maßnahmen mit hohem logistischem Aufwand.
Dobrindt kritisiert diesen indirekten Ansatz und fordert direkte Verhandlungen mit den Taliban:
„Meine Idee ist, direkte Vereinbarungen mit Afghanistan zu treffen, um Rückführungen zu ermöglichen.“
Der CSU-Politiker will eine dauerhafte diplomatische Lösung etablieren, anstatt auf Notlösungen zurückzugreifen.
Rechtliche Hürden und ethische Abgründe
Menschenrechtslage als Stolperstein
Die rechtliche Grundlage für Abschiebungen ist in Deutschland klar: Niemand darf in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm Folter, Tod oder erniedrigende Behandlung droht. Genau das aber ist in Afghanistan unter Taliban-Herrschaft vielfach dokumentiert – willkürliche Inhaftierungen, öffentliche Auspeitschungen und Hinrichtungen gehören zum Alltag.
Dennoch zeigt sich das Taliban-Außenministerium offen für Gespräche mit Berlin und spricht von einem „diplomatischen Verständnis zur Sicherstellung der Rechte von Bürgern“. Menschenrechtsorganisationen bezweifeln jedoch die Ernsthaftigkeit solcher Zusagen und warnen vor der Verletzung des völkerrechtlich verankerten Prinzips des Non-Refoulement.
Auch parteipolitisch gibt es Kritik. SPD- und Grünen-Politikerinnen bezeichnen Dobrindts Pläne als moralisch gefährlich. Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor formulierte:
„Mit einem Regime zu verhandeln, das seine eigene Bevölkerung unterdrückt, ist eine gefährliche Erosion unserer Werte.“
Die Perspektive der Taliban
Für die Taliban ist eine Einigung mit Deutschland politisch attraktiv. Sie könnte als Schritt zur internationalen Anerkennung gedeutet werden. Bisher weigern sich die Taliban, Rückführungen über Drittländer zu akzeptieren – sie fordern eine direkte bilaterale Vereinbarung.
Menschenrechtsbeobachter berichten, dass in 2024 abgeschobene Afghanen aus europäischen Ländern nach der Ankunft in Kabul verhört und teils inhaftiert wurden. Genau solche Fälle befeuern die rechtlichen und moralischen Bedenken gegen Dobrindts Vorstoß.
Politischer Druck und öffentliche Meinung
Wahlkampfrhetorik und konservative Strategie
Der Wunsch nach Abschiebungen ist eng mit innenpolitischen Zielsetzungen verknüpft. Die Bundestagswahl 2025 brachte der konservativen Koalition unter Merz die Mehrheit – auch durch das Versprechen einer konsequenten Migrationspolitik. Themen wie Integration, innere Sicherheit und die Kontrolle der Außengrenzen dominierten den Wahlkampf.
Dobrindt gab inzwischen auch Kontakte zur neuen islamistischen Regierung Syriens bekannt. Diese kam nach dem Sturz Assads im Dezember 2024 an die Macht. Auch hier sollen Gespräche über Rückführungen verurteilter Syrer geführt werden.
Diese Strategie deutet auf einen Kurswechsel hin: direkte Verhandlungen mit Regimen, die Berlin bislang mied, werden jetzt als „pragmatische Lösung“ zur Steuerung der Migration betrachtet.
Diplomatische und rechtliche Komplikationen
Kein Botschafter, keine Garantien
Da Deutschland die Taliban-Regierung nicht anerkennt, fehlen die diplomatischen Grundlagen für verbindliche Abkommen. Auch das bedeutet: keine Schutzklauseln, keine Kontrolle über das Schicksal der Abgeschobenen.
Bisher übernahm Katar die Vermittlung. Doch die Taliban fordern eine direkte Absprache. Dobrindt will sich dem beugen, um effizientere Strukturen zu schaffen. Aber jede Einigung in diesem Graubereich der internationalen Diplomatie birgt rechtliche und politische Risiken.
Vergleichbare Modelle gab es in der Vergangenheit etwa im Umgang mit Nordzypern oder Somaliland – auch dort versuchten westliche Staaten, informelle Kooperationen ohne Anerkennung aufzubauen. Doch keine dieser Konstellationen hatte ein derart problematisches menschenrechtliches Fundament wie Afghanistan unter den Taliban.
Klagen vor deutschen Gerichten vorprogrammiert
Rechtsexperten rechnen fest mit Klagen gegen geplante Rückführungen. Jeder Einzelfall müsste gerichtlich geprüft werden, insbesondere unter der Fragestellung: Ist das Herkunftsland sicher? Gibt es Schutzmechanismen für Rückkehrer?
Ohne diplomatische Begleitung oder Monitoring vor Ort könnte Deutschland juristisch haftbar gemacht werden, falls Abgeschobene verfolgt oder misshandelt werden. Das macht die Umsetzung des Plans noch komplexer und rechtlich fragil.
Regionale Dynamiken und globaler Kontext
Afghanistan und Syrien als Testfälle
Deutschlands Annäherung an die Taliban erfolgt in einem geopolitisch instabilen Umfeld. Die Taliban konnten ihre Macht festigen, auch wenn sie international isoliert bleiben. Gleichzeitig ist Syrien nach Assads Sturz weiter von Gewalt und Machtkämpfen geprägt.
Angesichts steigender Flüchtlingszahlen aus diesen Regionen versuchen europäische Staaten, eigenständige Lösungen zu finden. Österreich und Dänemark etwa prüfen ähnliche Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern. Deutschland könnte mit seiner Linie zum Vorbild – oder Mahnmal – werden.
Berlin will die Kontrolle zurückgewinnen – koste es, was es wolle. Doch wer den diplomatischen Pfad mit autoritären Regimen beschreitet, braucht mehr als innenpolitische Zustimmung: Es braucht Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und internationale Legitimität.
Perspektive eines Experten
Jack Guy Anderton, Analyst für Migrationspolitik, äußerte sich im Gespräch mit DW News:
„Deutschlands Drängen auf direkte Abschiebeabkommen mit den Taliban ist eine pragmatische Reaktion auf innenpolitischen Druck. Doch es droht die Gefahr, ein Regime zu legitimieren, das für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist – mit ungewissem Schicksal für Rückgeführte.“
Germany has restarted deportations to Afghanistan of Afghan nationals who have committed crimes in Germany.
— JACK ANDERTON (@JACKGUYANDERTON) August 30, 2024
There is no reason Britain should not follow and restart too. pic.twitter.com/z40qj6cEgD
Zwischen Abschreckung und Anerkennung
Deutschland setzt mit Dobrindts Vorstoß auf einen harten, aber riskanten Kurs. Er könnte helfen, Rückführungen effizienter zu gestalten, Abschiebungen durchzusetzen und Wähler zu beruhigen. Doch zugleich droht der Preis in Form beschädigter Rechtsgrundsätze, diplomatischer Isolation und politischer Glaubwürdigkeitsverluste.
Ob sich der Plan in der Praxis bewährt, hängt von vielen Faktoren ab: Von der Sicherheit der Abgeschobenen, der Rechtslage, der öffentlichen Unterstützung – und der Frage, ob Deutschland damit unbeabsichtigt zur Legitimation des Taliban-Regimes beiträgt.
Die nächsten Monate werden zeigen, ob Berlin eine diplomatische Gratwanderung gelingt – oder ob das politische Kalkül in einem humanitären Dilemma endet.