Die neue deutsche Regierung steht vor enormen außenpolitischen Herausforderungen, wenn sie ihr Amt übernimmt. Viele Experten betrachten diesen Moment als einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte – den Beginn einer neuen Ära, in der sich das Land in fast allen Bereichen neu orientieren muss. Anders gesagt: Es ist ein endgültiger Abschied von der bequemen Position, ein wirtschaftlich mächtiges, aber geopolitisch eher vorsichtiges Land zu sein.
Seit Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Westdeutschland fest an den Westen gebunden, setzte sich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Multilateralismus ein. Außenpolitische Entscheidungen wurden in enger Zusammenarbeit mit den westlichen Verbündeten getroffen, und die USA übernahmen die Sicherheitsgarantien. Doch jetzt ändern sich die Dinge.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar erklärte der US-Vizepräsident JD Vance, dass Europa künftig seine eigenen Verteidigungskosten und -verantwortungen übernehmen müsse. Dies löste Besorgnis bei Friedrich Merz, dem Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union (CDU) und wahrscheinlichen nächsten Bundeskanzler, aus. In einem Interview mit DW drückte Merz seine Frustration aus und sagte: „Wir stehen an einem historischen Scheideweg: Die Sicherheitsgarantien der USA werden infrage gestellt, und die Amerikaner stellen demokratische Institutionen in Frage.“
Deutschland an einem Scheideweg mit China und der NATO
Roderich Kiesewetter, außenpolitischer Experte der CDU, erklärte, dass Deutschland sich an einem Scheideweg befindet, da seine Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zunehmend bedroht sind. Er verwies auf den wachsenden Einfluss Chinas, das bestrebt ist, demokratische Staaten wie Deutschland abhängiger zu machen. Er plädierte für eine Politik, die die nationalen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in den Vordergrund stellt und warnte davor, dass ein Versäumnis, dies zu tun, die NATO als Abschreckung schwächen könnte.
Kiesewetter betonte die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik. „Altmodisches Beschwichtigungstdenken und Naivität gegenüber China sind kontraproduktiv“, sagte er.
Der Einsatz deutscher Friedenssoldaten in der Ukraine?
Das anhaltende Kriegsgeschehen in der Ukraine wird wahrscheinlich eine weitere bedeutende Veränderung in der deutschen Politik nach sich ziehen. Seit der russischen Invasion 2022 ist Deutschland einer der größten Unterstützer der Ukraine und leistet sowohl militärische Hilfe als auch nimmt Flüchtlinge auf. Zukünftige Friedensverhandlungen könnten jedoch nur zwischen den USA und Russland geführt werden, was Deutschland und andere europäische Länder mit der Aufgabe betrauen könnte, ein solches Abkommen mit eigenen Soldaten zu sichern.
Eine Umfrage von Forsa ergab, dass 49 % der deutschen Wähler einen Einsatz von Friedenssoldaten in der Ukraine unterstützen, während 44 % dagegen sind. Ob Deutschland diesem Einsatz zustimmen wird, bleibt abzuwarten.
Die Ausweitung der deutschen Streitkräfte
Die deutschen Verteidigungsfähigkeiten werden einer erheblichen Erweiterung unterzogen. Der Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter von der Grünen Partei hat die Kosten für die Aufrüstung auf rund 500 Milliarden Euro geschätzt. Der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz betonte ebenfalls die Notwendigkeit, dass Deutschland in Europa eine Führungsrolle übernimmt, insbesondere in Verteidigungsfragen.
„Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land Europas und liegt geostrategisch im Zentrum des Kontinents“, sagte Merz. „Wir müssen diese Rolle erfüllen.“
Ein möglicher Anstieg der Verteidigungsausgaben
In praktischen Begriffen bedeutet dies einen erheblichen Aufbau militärischer Fähigkeiten. Seit 2022 gibt es einen Sonderfonds von rund 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr, der jedoch bis 2028 aufgebraucht sein soll. Dies könnte dazu führen, dass die Verteidigungsausgaben von derzeit rund 50 Milliarden Euro jährlich auf 80 oder sogar 90 Milliarden Euro steigen.
Dieser Anstieg der Ausgaben könnte durch zusätzliche Schulden oder Kürzungen in anderen Bereichen des nationalen Haushalts finanziert werden, ein Thema, das derzeit im Wahlkampf in Deutschland heftig debattiert wird. Für Kiesewetter ist dieser Anstieg entscheidend für die zukünftige transatlantische Partnerschaft Deutschlands. „Europa muss das notwendige Minimum beitragen, damit die USA ein starker Partner in Europa und der NATO bleiben“, sagte er.